Ein bisschen an der Ananas geschnüffelt, einmal in die Avocado gedrückt – so sammelt der Hobbykoch seine Zutaten ein. Der Profi wiederum weiß wirklich, wie und wo man Lebensmittel erster Güte findet. Wir begleiten den Chefkoch des Münchner Edel-Restaurants Broeding, Manuel Reheis, bei seinem Einkauf auf dem Münchner Großmarkt und im Schlachthof.
Der Münchner Großmarkt ist über ein Jahrhundert alt und in Europa einer der größten seiner Art – zu groß (31 Hektar) und zu alt (*1912) für bunt beschirmte Holzbuden und ästhetisch aufgereihte Pfirsichpyramiden. Auf den ersten Blick wirken die gelb getünchten Lager-, Kühl- und Verkaufshallen hinter den grauen Mauern und Toren eher wie ein architektonisches Hybrid aus Strafvollzugsanstalt und Landschlösschen. Der heutige Herbsttag am Großmarkt beginnt derb, aber fürstlich mit Kaffee- und Weißwurstfrühstück beim Münchner „Weißwurstpapst“ Wallner in der markteigenen Gaststätte. Und mit Warten auf Manuel Reheis. Der Chefkoch des Broeding trudelt gegen neun ein. Keine Eile, Fünftagebart.
Am Markt herrscht Hochbetrieb, Lkws sind beladen; aber wer wie Reheis bis zwei Uhr nachts seine Küche putzt, muss selbst erst mal wieder aufladen. „Vor halb sechs komm ich hier eh nicht rein. Nur die Großkunden“, weiß er. Außerdem: die Handelsketten, Kantinen und Großküchen. Seit 25 Jahren besucht Reheis jeden Montag und Donnerstag das Gelände in Sendling. Er ist einer der wenigen Restaurantköche, die noch selbst auf den Markt gehen. Die meisten lassen sich ihre Waren liefern. Doch keine noch so bequeme Lieferoption wird Manuel Reheis von der persönlichen Musterung seiner zukünftigen Zutaten abhalten. „Wenn ich keine Familie hätte, würde ich meinen Urlaub nur auf dem Markt verbringen“, gesteht er. Sein Kopf wiegt sich zu dieser Beichte im vollkommenen Glück einer Erinnerung. Jeder Mensch sehnt sich nach einem Partner, der ihn so ansieht, wie Manuel Reheis blickt, wenn er an Märkte denkt.
Reheis will seine Lebensmittel aufrichtig kennenlernen. Er will wissen, ob die Kuh seiner Milchprodukte Hörner hat, mit denen sie sich behaupten kann, weil „die Kuh wird ohne Horn hinterhältig, das schmeckt man“. Er muss nachfragen, denn „die Persimon sieht meistens unreif aus, schmeckt aber super.“ Die Herkunft und Qualität und Konsistenz eines Produkts kann er nur von den Händlern erfahren. Wo, wenn nicht auf dem Markt, lässt sich eine respektvolle Verbindung zwischen Produzent*innen, Produkt und Boden besser nachvollziehen. Wer es im sogenannten Supermarkt schon mal geschafft hat, eine hilfreiche Mitarbeiterin abzufangen, erfährt von ihr nur, in welchem Gang die Bioeier stehen, aber nicht, wie das Huhn hieß, das sie legte, und wie es dem Bauern geht, der es pflegt.
Dabei sind es gerade die Menschen hinter den Produkten, die Reheis faszinieren: „Das sind bewusste, ehrliche Menschen, die mit dem, was sie auf dem Teller und an familiärer Wärme haben, viel reicher sind als wir alle hier.“ Auch, wenn sie mit ihrer Arbeit nicht gerade reich werden. Paradebeispiele dafür stehen in der Gärtnerhalle: Die 19 ansässigen Gärtnereien verkaufen ihre Ware direkt vom Feld. „Die ist nie älter als zwölf Stunden“, gelobt Hansi, die fünfte Generation von Gemüsebau Waibl. Als Kind half er dem sagenhaften Münchner „Radi Schorsch“ für fünf Mark beim Beladen seiner Bude in der Fußgängerzone, direkt vor dem Beate-Uhse-Shop. Er würde eingehen, müsste er was anderes machen, sagt er.
Reheis will seine Lebensmittel aufrichtig kennenlernen. Er will wissen, ob die Kuh seiner Milchprodukte Hörner hat, mit denen sie sich behaupten kann, weil „die Kuh wird ohne Horn hinterhältig, das schmeckt man“.
In der Halle hat es zapfige zehn Grad. Von draußen weht eine Besuchergruppe in Warnwesten herein. Reheis zieht seine Bahnen durch grüne Kisten und drückt sich dicke Bündel Rosmarin, Oregano, Thymian in die linke Hand. Die kann man direkt vom Bund hacken. Zarte Blättchen von Topfkräutern sind zum Garnieren ganz nett, der Pott macht aber nur Müll. Wir sind hier doch nicht im Supermarkt! „Einer von den Guten“, befindet Hansi, als Reheis seinen Gemüsestand passiert. Handschlag drauf. Keiner von beiden weiß, wie der andere heißt. Aber man kennt sich eben. Und Hansi weiß, dass seine Schnittsalate und Roten Rüben nicht in Reheis’ Beuteschema passen. Reheis sucht das Außergewöhnliche. Und das findet er in den Hallen eins bis vier.
Reheis ist an diesem Tag samt Kleinbus gekommen. Er bugsiert einen kleinen klappbaren Paketwagen durch die Schiebetür, den er fortan wie einen Kinderwagen vor sich herschiebt oder wie ein bockiges Kind hinter sich herzieht. Sein idealer Einkaufsbegleiter, denn jetzt wird hoch gestapelt. In den Urhallen eins bis vier findet der „klassische“ Verkauf statt. Das meiste Obst und Gemüse ist Flug- und Schiffsware, hier lagern die Exoten. Die Händler sitzen wie Richter hinter hohen Pulten. Der Laie hofft auf ein gnädiges Urteil, wenn er schon wieder einem Hubwagen im Weg steht. Reheis manövriert sein ungelenkes Wägelchen erstaunlich gewandt durch das Labyrinth aus Europaletten, Gabelstaplern und Obstkartontürmen zu den Quellen seiner Inspiration.
Das Menü im Broeding hat fünf bis sechs Gänge und wechselt täglich. Um 16 Uhr muss es fest- und online stehen. Es ist jetzt halb zehn. Manuel Reheis bringt in aller Ruhe zwei knittrige, fleckige, mit Zutaten bedruckte und bekritzelte Blätter zum Vorschein, die er anschließend gar nicht mal zu Rate zieht. Druck, seitens Zeit oder Zutaten, erstickt die Kreativität. Reheis versteift sich nicht auf Ideen, er sucht ständig neue Aromen, kombiniert und improvisiert mutig, um sich selbst und seine Gäste zu überraschen. Für diese Spielereien eignet sich der Markt hervorragend: Bergamotten, Bittermelonen, Amalfi-Zitronen werden gerieben, berochen, betastet, gewogen. Gewürztagetes und Vogelmiere sagt Reheis so selbstverständlich auf, wie unsereins Kiwi und Bananen benennen kann. Man meint zu sehen, wie Zutaten durch seinen Kopf schwirren, darin schmoren, sautieren, sous-vide-garen.
Reheis schließt selig die Augen: „Quitte liebe ich. Eins meiner absoluten Highlights.“ Man glaubt ihm aufs Wort, aber gleich darauf nehmen kugelrunde Auberginen ihn voll in Beschlag. Auch sie liebt Reheis – und den Radicchio Tardivo, der aussieht wie ein kleiner Krake, und den pockennarbigen Delica-Kürbis aus Norditalien, von dem er gleich zwei Kisten auf den Wagen packt. Stellt man Reheis eine Fachfrage, hechtet er zu dem Produkt, mit dem er am besten antworten kann, und erzählt zum Beispiel „eine nette Geschichte zur erotischen Kaki“, die zum Auslöffeln dunkelrot sein und fast aufplatzen muss. Oder er verzweifelt an der türkischen Quitte: „Die riecht nach Paprika, und ich weiß nicht warum.“ Unberechenbare Zutaten untergraben die Menüplanung. Es ist fast 11 Uhr.
Es dauerte ein knappes halbes Jahr nach seinem Großmarkteinstand, bis Reheis die Stände seines Vertrauens ermittelt hatte. Inzwischen weiß er, dass Martin die besten Tomaten verkauft – süß-säuerliche aus dem Gargano, mit Salzwasser gegossen.
Es dauerte ein knappes halbes Jahr nach seinem Großmarkteinstand, bis Reheis die Stände seines Vertrauens ermittelt hatte. Inzwischen weiß er, dass Martin die besten Tomaten verkauft – süß-säuerliche aus dem Gargano, mit Salzwasser gegossen. Alle Händler versehen ihre Kisten und Steigen mit Visitenkarten. Wiedersehen macht Freude und Profit. Reheis verschafft es Privilegien: Ware wird ihm zurückgelegt, Preis nachgelassen. Nicht einmal handeln muss Reheis, obwohl das Handeln zum Markt wie ein Spritzer Säure ins Essen gehört, und wer nicht mitmacht, wird halt pauschal zu seinem Glück gezwungen: „Wenn einer 19 Euro vorgibt und ich nichts sage, schreibt er mir trotzdem nur 17 auf.“
Was für ein wunderbarer Selbstläufer dieses Markttreiben zu sein scheint. Die Leichtigkeit des Marktseins ist allerdings eine wohlverdiente Treueprämie. Nicht jede*m schneidet Jochen mit der imposanten Brustbehaarung die Ringelbete zur inneren Ansicht auf. „Ich bin einer der wenigen, die das dürfen, ohne einen Einlauf zu kriegen“, ist ein häufiger Satz aus Reheis’ Mund. Sehr gut zu wissen.
Mariano von der Bio-Corner fährt zu Demonstrationszwecken mit seinem erdigen Daumennagel über eine Biozitronenschale: Schau! Kein Wachs am Nagel! Leider sind die meisten Biozitronen laut Reheis nicht besonders aromatisch. Sorry, Mariano. Der Chefkoch kennt keine Kompromissware. Reheis ist geradeaus und eigen. Er sagt offen, wenn ihm Ware nicht taugt. Und er kauft nicht bei Menschen, die ihm unsympathisch sind, auch wenn die Qualität stimmt. „Für die gleiche Ware zahle ich auch mal mehr, weil mir einer als Mensch lieber ist.“
Giuseppe ist ein Grenzfall. „Der ist ein extremer Marktschreier“, und Reheis mag es nicht laut, denn laut bedeutet bei ihm: Gelaber. Und je lauter einer seine Ware schönschreit, desto nötiger hat er es offenbar. Aber gestern hat Reheis eine Offenbarung an Produkt bei Giuseppe entdeckt: eine Artischocke. „Die ölig-speckigen Blätter zusammen mit dem Brunello di Montalcino gestern, den Geschmack habe ich jetzt für immer abgespeichert.“ Reheis bricht einer Artischocke ihren langen Stiel ab, pult sein Innerstes hervor und verteilt es in heller Begeisterung unter den Umstehenden. Giuseppe freut sich auf Italienisch: „Immer nur scheiße, scheiße. So mage ich dich!“
Man muss als Koch nicht alles mögen, aber alles probieren sollte man schon.
Privatpersonen und ihre Privateinkäufe sind auf dem Großmarkt nicht vorgesehen. Wer aber mal drei, vier Kisten Saurüben oder einen 10-Kilo-Sack Walnüsse braucht, kann es gern versuchen. Er sollte sich aber warm anziehen. Der Ton hier ist überwiegend „brutal ruppig“. Doch unter den ernsten Mienen der Männer herrscht eine stille Übereinkunft, dass man sich mag: „Trinkst du ab und zu auch an Espresso oder nur Tee, Karlchen“, fragt ein korpulenter Herr mit Schiffermütze einen anderen korpulenten Herrn im Fleecepullover. Reheis trinkt vier Espresso am Tag, manchmal auch fünf, selten am Großmarkt. Man hat nicht das Gefühl, dass er Koffein nötig hat.
Während manche Fingerkuppe im Hallen-Dauerfrost ihr Gefühl verliert, bleibt Reheis aufgeweckt, seine Wangen sind rosig. So sieht einer aus, der für etwas brennt. So einer findet es schade, dass die meisten Menschen keine Lust mehr haben, mit Lebensmitteln umzugehen – erst recht, wenn sie Augen und ein Gesicht haben. Reheis kauft selten vorfiletiert, er verarbeitet fast nur ganze Tiere. Er selbst mag Rinderzwerchfell und Kalbshirn. In China musste er zweimal Schweineanus essen. „Ein drittes Mal brauch’ ich das nicht“, sagt er. Man muss als Koch nicht alles mögen, aber alles probieren sollte man schon. Im Moment hat Reheis noch eine Ziege und ein paar Enten aus Niederbayern übrig. Fleisch braucht er heute keins. Trotzdem geht es in den Schlachthof in der angrenzenden Isarvorstadt.
Auf dem Münchner Schlachthof werden nicht nur Schweine und Rinder geschlachtet und verkauft, es sind auch Fisch und Feinkost im Angebot. Insider nennen den geballten Lebensmittelraum aus Großmarkt und Schlachthof den „Bauch von München“. Anscheinend hat der Bauch Verdauungsprobleme, denn es stinkt hier gerade abartig. „Verstopfte Rohre“, glaubt Reheis und parkt gut gelaunt neben einem „Parken Verboten“-Schild. „Ich darf das“, findet er und auch, dass man sich beim Einkauf nicht allein auf den Geruchssinn verlassen sollte. Siehe: die Ananas. Die riecht auch intensiv, wenn sie überreif ist. Besser man zieht an einem ihrer Blätter. Geht es leicht raus, wunderbar.
„Wenn gleich der ganze Busch mitkommt, ist sie auch nichts“, erklärt er und schnappt sich für seine Runde durchs Frischeparadies wie ein normaler Kunde einen Einkaufswagen. In dem Feinkostmarkt kaufen auch Rentner*innen, Hausfrauen und sonstige Gourmets ein. Hier bekommt Reheis kleinere Mengen als die auf dem Großmarkt üblichen Stiegen und Säcke: eine Flasche Cassis-Sirup, drei Crème Double und ein 200-Gramm-Stück Zander, in dem Fall vorfiletiert, weil ein einziger Gast beim Wochenendcatering des Broeding unbedingt und nur ein Stück Zander möchte.
Es fischelt nicht beim Fischlieferanten. „Guter Fisch riecht nicht“, sagt Reheis: Guter Fisch hat Kiemen, dunkelrot wie Venenblut, sein Körper ist gespannt, nicht schlaff, und je trüber seine Augen, desto älter ist er.
Die dicken Fische gibt es bei Moby Dick. Es fischelt nicht beim Fischlieferanten. „Guter Fisch riecht nicht“, sagt Reheis: Guter Fisch hat Kiemen, dunkelrot wie Venenblut, sein Körper ist gespannt, nicht schlaff, und je trüber seine Augen, desto älter ist er. Dann schnippt Reheis mit dem Zeigefinger gegen ein paar Muscheln. Wenn die Schalenhälften nicht reagieren, ist der Schließmuskel und die restliche Muschel tot. Diese hier zucken vorbildlich. „Ist ja auch ein Monat mit R!“, bemerkt der Google-Gelehrte. Reheis lacht kurz auf. „Ist ne Mär.“
Geschickt eingefädelte Transportketten machen die globale Vollversorgung längst möglich. Am Montag bekommt Reheis einen ganzen Schwertfisch. Heute 20 Kilo Kabeljau auf Eis. Es ist 12 Uhr 20. Und jetzt weiß er also sein Menü: Heute Abend wird es unter anderem Kabeljau mit Gemüsefrikassee und Paprika-Aioli, Steinpilzschmarrn mit Fenchelsalat und Maronen-Frischkäse-Kuchen mit Quitten geben.
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